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Michael Hanita

Über notwendige Kurskorrekturen für die Transformation der Mobilität

Es ist schon eigenartig, dieses Déjà-vu, das ich jedes Jahr beim Ausfüllen meiner Steuererklärung habe. Wirklich jeder Steuerpflichtige weiß, dass keiner mehr wirklich durchblickt, was die einschlägigen Gesetze, (Sonder-)Regelungen und Abschreibungsmöglichkeiten angeht. Da hat sich über viele Jahre etwas entwickelt, was heute einfach keinen Sinn mehr macht. Alle sind prinzipiell dafür, die ganze Sache radikal zu vereinfachen. Nur darf dabei für niemanden und auf keinen Fall irgendein Nachteil entstehen!

Wer sich - wie wir bei Arcadis - über Jahrzehnte mit der Konzeption und Planung von Verkehrs- und Transportinfrastruktur beschäftigt, der fühlt oft das gleiche Dilemma. Die überwiegende Mehrheit der Menschen hat inzwischen akzeptiert, dass der Klimawandel und die räumlichen Nutzungskonflikte in den Städten eine schnelle und grundlegende Transformation unserer Mobilitätssysteme erfordern. Trotzdem werden allzu oft geliebte Pfründe verteidigt, wenn das vor der eigenen Haustür passiert. Wir wollen Innovation ohne Veränderung – und das kann nicht funktionieren.

Dazu kommen mehrere, ziemlich „deutsche“ Faktoren: Extrem lange Planungsvorläufe für Vorhaben, die Tendenz zu nicht-kompatiblen, lokalen Insellösungen, ein Perfektionismus und Skeptizismus gegenüber unkonventionellen Ideen, die nicht schon in der Konzeptionsphase bis ins letzte Detail durchdacht sind, Lagerdenken und Dogmatismus, ein Mangel an Agilität sowie die Neigung, das Rad immer wieder neu zu erfinden. Eine leider immer noch weit verbreitete Aversion gegenüber konsequenter Digitalisierung. Und nicht zuletzt eine fast schon kultische Verehrung des vierrädrigen Individualverkehrs und eine ungute Tendenz zur Schadenfreude, wenn ein vielversprechendes Konzept mal nicht auf Anhieb so funktioniert wie geplant. Kurzum: Der Mobilitätswandel braucht einen Kulturwandel in unseren Köpfen.

Ein praktisches Beispiel aus meinem persönlichen Umfeld: Ich lebe in einer Gegend von Bonn, in der keine Autos fahren dürfen. Gerade jetzt in der Pandemie beobachte ich täglich, wie regelmäßig alle gängigen Lieferdienste ihre Pakete verteilen, da sehr viele Menschen nur noch online bestellen. Jeder Lieferdienst kommt mit seinem eigenen Auto und verteilt seine Pakete. Dazu ein Gegenentwurf aus der Schweiz: In Zürich befindet sich aktuell ein neues Konzept im Aufbau. Die Idee dahinter: Alle Lieferungen von Paketen zu einer Stadt erfolgen per Bahn oder LKW. Innerhalb der Stadt verläuft unterirdisch eine Paket-U-Bahn, die die verschiedenen Lieferfahrzeuge obsolet macht. Das Konzept „Last Mile Transport“ beschreibt die alternative Verteilung von Lieferungen auf „den letzten Metern“. Damit kann CO2 eingespart und Verkehrschaos minimiert werden.

Keine Frage: Experimentierfreude hat da ihre Grenzen, wo Milliardenbeträge in Vorhaben investiert werden. Die Planung einer Neubaustrecke im deutschen Schienennetz braucht heute die gleiche Sorgfalt wie vor zwanzig Jahren. Und trotzdem können gerade wir Infrastrukturexpert*innen dank digitaler Innovation heute viel schneller und besser reagieren in einem dynamischen Spannungsfeld mit hohem Handlungsdruck, in dem zwanzigjährigen Vorlaufphasen für Projekte einfach dysfunktional sind. Mit Building Information Modeling, digitalen Zwillingen und Simulationen sind wir inzwischen in der Lage, den potenziellen Nutzen und die Auswirkungen von Verkehrstrassen und -hubs zuverlässig zu prognostizieren, lange bevor der erste Bagger auf der Baustelle steht.

Und mal Hand auf’s Herz: Wir haben hier in Deutschland zur Weltspitze gehört, was den Bau von Verbrennungsmotoren angeht. In der Disziplin „Nachhaltige Verkehrsinfrastruktur“ stehen wir aktuell nicht auf dem Podium. Und wir würden uns keinen Zacken aus der Krone brechen, wenn wir einfach mal frech kopieren würden, was die internationale Elite in diesem Bereich an den verschiedensten Orten schon erfolgreich umgesetzt hat: „Mobility as a Service“, Elektromobilität, Ladeinfrastruktur, Sharing-Konzepte, intermodale Verkehrshubs, „Last Mile Transport“ – wer sich ohne Scheuklappen umschaut, wird überall auf der Welt fündig.

Als Infra-Experte habe ich gerade jetzt das Gefühl, die spannendsten und aufregendsten Zeiten meiner nicht mehr ganz jungen professionellen Karriere zu erleben. Die Dynamik, mit der unsere Teams über die „klassische“ Ingenieurplanung hinauswachsen, sich mit Startup-Spirit interdisziplinär und international vernetzt aufstellen, mit den modernsten digitalen Tools und auf Augenhöhe mit unseren Kunden Strategien für einen erfolgreichen Umbau unserer Verkehrssysteme entwickeln, ist absolut beeindruckend. Und wenn wir irgendwann mal wieder mehr Zeit haben, bauen wir auch ein Konzept für eine zukunftsfähige Steuerreform. Versprochen.